Nationalparke vs. Biosphärenreservate: Welche Natur Natur sein lassen?

Ich kam kürzlich aus dem Feld zurück, wo ich in drei Fokusgruppen erfahren wollte, was Menschen im Thüringer Wald von Biodiversität und ihrem Wert halten. Als Aufhänger für die Diskussionen nutzte ich Vorschläge, im dortigen Biosphärenreservat neue Flächen unter Totalschutz zu stellen, um die Ziele der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt zu erfüllen. Das Credo der Bewohner des Reservats: Naturschutz und biologische Vielfalt, ja; Totalschutz, nein. Damit widersetzen sich diese Menschen nicht nur der Umsetzung der Biodiversitätsstrategie, sondern auch dem obersten Grundsatz des deutschen Naturschutzes: „Natur Natur sein lassen.“

Mab-logoIn vereinfachter Form lässt sich dieser Konflikt, den die Teilnehmer meiner Studie deutlich machten, als der Konflikt zwischen zwei Naturschutz-Konzepten beschreiben, die beide in Deutschland eine Rolle spielen: dem typisch deutschen Konzept der Nationalparke („Natur Natur sein lassen.“) und dem UNESCO-Konzept der Biosphärenreservate. Passenderweise fand die Studie eben in einem solchen UNESCO-Reservat statt, diskutiert wurde dann aber eine Verschiebung hin zum „deutschen“ Naturschutz.

In einem Nationalpark darf man in Deutschland fast gar nichts. Man darf durch so ein Gebiet gehen, obgleich nur auf ausgewiesenen Wegen. Man darf nichts mitnehmen oder liegen lassen. Keine Beeren, keine Pilze, kein Holz, keine Blumen, keine Tiere. Auch wird ein Nationalpark weder „aufgeräumt“ noch „gesteuert“ – es wird nichts angepflanzt, kein Totholz beseitigt, Borkenkäfer und ähnliche Kalamitäten werden bewusst zugelassen (vide Bayerischer Wald). Man lässt „Natur Natur sein“ und überlässt ihr bewusst freien Lauf. Man nennt dies auch den Prozessschutz, weil hier nicht ein bestimmter Zustand des betreffenden Ökosystems unter (Total-)Schutz gestellt wird, sondern natürliche Prozesse – zu welchen Zuständen sie auch führen mögen. Diese Art von Naturschutz ist unter der lokalen Bevölkerung recht umstritten, weil sie einerseits jegliche Nutzungen einschränkt und andererseits oft zu starken Veränderungen im gewohnten Landschaftsbild führt.

Ein Biosphärenreservat funktioniert anders als ein Nationalpark. Das oberste Ziel ist ein Miteinander von Mensch und Natur – man könnte somit Nationalparke als einen land-sparing-, Biosphärenreservate als einen land-sharing-Ansatz interpretieren. Zwar enthalten auch Biosphärenreservate sog. Kernzonen, die unter Totalschutz stehen. Diese sind aber in der Regel sehr klein. Eine viel größere Fläche nehmen die Pflegezonen (wo vielfältige Nutzung stattfinden darf, obgleich unter recht strengen Auflagen) und die Entwicklungszonen ein. Letztere unterscheiden sich zumindest in Deutschland nicht stark von Flächen, die formal nicht unter Schutz stehen. Das Ziel der Kernzonen ist auch gewissermaßen „Natur Natur sein lassen“, jedoch zu einem konkreten Zweck – Bildung und Forschung. Es geht weniger um die Erhaltung vermeintlich natürlicher Ökosysteme um ihrer selbst willen, sondern um die Vorteile, die der Mensch aus ihrer Existenz ziehen kann, im Sinne so gewonnenen Wissens und Verständnisses über das Funktionieren der Umwelt.

Ich schrieb oben bewusst von „vermeintlich natürlichen Ökosystemen“, denn so etwas wie vom Menschen „unberührte“ Natur existiert nicht. Es gibt kein Ökosystem auf dieser Welt (vielleicht mit der Ausnahme mancher Bereiche der Antarktis), das nicht auf die eine oder andere Art und Weise vom Menschen beeinflusst wurde – sei es durch frühneolithische slash-and-burn-Landwirtschaft, durch die mittelalterliche Entwaldung, durch die auffällig mit der Ankunft des Menschen korrelierenden Aussterbeereignisse von Megafauna auf allen Kontinenten außer Afrika, durch Klimawandel oder Plastikverschmutzung. Wir leben im Anthropozän, einem vom Menschen geprägten Zeitalter.

Doch geht es auch beim Prinzip „Natur Natur sein lassen“ nicht um die naive Erhaltung eines „natürlichen Zustands“. Wie bereits erwähnt, orientiert man sich im deutschen Naturschutz eher am Prozess- denn am Zustandsschutz. Der Prozessschutz setzt nicht voraus, dass man es mit einem unberührten Ökosystem zu tun hat, auch nicht, dass man jegliche Einflüsse des Menschen ausgrenzen könnte. Man minimiert diese lediglich, indem man jegliche lokalen Nutzungen jenseits des Wanderns auf ausgewiesenen Wegen unterbindet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem deutschen Nationalparkskonzept und der UNESCO-Idee vom Menschen und Biosphäre besteht darin, dass Nationalparke die natürlichen Prozesse vor allem um ihrer selbst willen schützen sollen. Es wird ihnen ein intrinsischer Wert zugesprochen, weit hinausgehend über den instrumentellen Wert des Wissensgewinns, der hinter den Kernzonen von Biosphärenreservaten steht. Nur so, unter Berufung auf den intrinsischen Wert, lassen sich derart weiträumige Totalschutzflächen begründen, wie wir sie in Nationalparken vorfinden.

Nun ist es bekannt, dass ich zum Anthropozentrismus tendiere und die Idee, Natur hätte einen intrinsischen Wert, für problematisch halte. Dies resultiert nicht nur aus meiner Überzeugung, dass sich ein Physiozentrismus nicht konsistent begründen lässt (obwohl es da durchaus interessante Ansätze gibt), sondern auch aus der, dass für mich der Mensch trotz allem Teil der Natur ist. Ich finde es problematisch, ihn aus der Natur „auszuschließen“, indem man seine Interaktionen mit bestimmten Gebieten auf ein Minimum reduziert. Natürlich ist mir bewusst, dass der Mensch ein Teil der Natur ist, der seine Umwelt recht stark beansprucht und damit langfristig sogar seine eigene Existenz unterminiert. Letzteres ist für mich dann auch der ultimative Grund, Umwelt- und Naturschutz zu betreiben – nicht der vermeintliche intrinsische Wert von Tieren, Pflanzen oder gar Ökosystemen bzw. der Gaia. Das Problem ist also nicht das Eindringen des Menschen in die Natur, sondern dass wir, unter Berücksichtigung unserer Wirkmächtigkeit, zu unbedacht mit dieser umgehen.

Und genau darum kann ich die Bedenken der Teilnehmer meiner Fokusgruppen gut verstehen. Obwohl sie in einem hochindustrialisierten Land leben, ist ihr Leben dennoch eingebettet in das sie umgebende Ökosystem. Sie entnehmen daraus Holz, sammeln Pilze und Beeren, jagen dort. In einem Nationalpark oder in einer ausgeweiteten Kernzone dürften sie dies nicht mehr. Und das ist nur die Situation in Deutschland. Um wie viel schwerer wäre der Nutzungsverzicht für Menschen in ärmeren Ländern, die oft viel mehr und stärkere Interaktionen mit Ökosystemen haben, von denen sie mitunter sehr abhängig sind?

Es sollte im Naturschutz nicht um „Nutzung vs. keine Nutzung“ gehen, sondern um die Frage, wie viel Nutzung nachhaltig ist. Vielleicht war es ein Fehler, das 5%-Ziel in die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt hereinzunehmen (das besagt, dass bis 2020 5% aller deutschen Wälder aus der Nutzung herausgenommen werden sollen). Statt neue Nationalparke oder quasi-Nationalparke (bspw. große Kernzonen in Biosphärenreservaten) auszuweisen, sollte man vielleicht doch eher einen Mittelweg suchen, den Biosphärenreservate bieten können: mit kleinen Kernzonen, in denen man in besonders „interessanten“ Gebieten Prozessschutz betreiben kann, mit relativ großen Pflegezonen (die zzt. noch oft relativ klein sind) und einem mäßigen Anteil von Entwicklungszonen. Auch dann würde man in einem gewissen Sinne „Natur Natur sein lassen“ – bloß mit einem anderen Verständnis von Natur, das den Menschen nicht aus ihr ausschließt.

Vessertal (Autorin: KatrinS83, CC BY-SA 3.0).
Vessertal (Autorin: KatrinS83, CC BY-SA 3.0).

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