Der Erziehungsberechtigten-Effekt

Das geht ganz langsam, Jan, das merkst du gar nicht, Stück für Stück. Irgendwann willst du auch die rostige Karre loswerden, willst ’n Auto haben, das zuverlässig ist, ’ne Klimaanlage hat, Garantie. Dann heiratest du, hast ’ne Familie, willst ihr was bieten, kaufst ’n Haus, dann haste Kinder, die müssen zur Schule gehen, Ausbildung, das kostet Geld. Sicherheit. Dann machst du Schulden ohne Ende, und um die Schulden abzuzahlen, musst du Karriere machen. Um Karriere machen zu können, musst du so denken wie die anderen, und irgendwann ertappst du dich dabei, dass du in der Wahlkabine stehst und dann… für die CDU das Kreuz machst.

Das obige Zitat stammt aus dem deutschen Film Die fetten Jahre sind vorbei. Es ist Teil eines Dialogs zwischen einem älteren Geschäftsmann, ex-68er, und dem jungen Rebell Jan, der in seiner Freizeit in die Häuser reicher Menschen einbricht, Mobiliar durcheinanderbringt und mit „Die Erziehungsberechtigten“ unterzeichnete Briefe hinterlässt.

Das Zitat behandelt ein sehr wichtiges Dilemma, mit dem ich und einige Menschen aus meinem Freundeskreis gerade zu kämpfen haben, das ich in Anlehnung an den Film im Folgenden den Erziehungsberechtigten-Effekt nennen werde. Wann der Effekt einsetzt, dürfte schwanken, aber ich vermute ihn bei den meisten Betroffenen etwa zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr. Es ist eine Zeit, in der sich das eigene Leben stabilisiert: man zieht mit einem Partner zusammen (keine WG mehr), kriegt eventuell die ersten Kinder, heiratet, fängt an zu arbeiten etc. War man vorher ein engagierter Idealist, meistens tendentiell links, merkt man bei sich selbst und/oder im Freundeskreis einen Trend zu einer konservativeren bzw. „bürgerlicheren“ Einstellung. Man lernt plötzlich das gesellschaftliche Status quo zu schätzen, bemerkt bis dato übersehene oder ignorierte Schwächen der früher verfolgten Utopien, ist zunehmend desillusioniert bezüglich der Aussichten zivilgesellschaftlichen Engagements, sieht die Welt generell weniger schwarz-weiß… Oft damit verbunden ist eine zunehmende Wertschätzung des Materiellen – zum ersten Mal im Leben besitzt man wirklich etwas, das man sich selbst „erarbeitet“ hat. Kriegt man Kinder, wird das Ganze noch viel komplizierter, weil die Diskrepanz zwischen dem, was man als (engagierter) Bürger richtig findet, und dem, was man als Eltern tut, oft ziemlich ins Auge sticht (Beispiel: man ist gegen de-facto-Seggregation in Schulen, schickt seine Kinder aber auf die besten Elite-Gymnasien, damit sie eine vermeintlich hochwertige Ausbildung genießen). Wenn man sich diese Entwicklung vergegenwärtigt, stellt man sich tatsächlich die Frage: Ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich selbst mein Kreuzchen bei der CDU mache?

Ein Freund von mir, der das obige Zitat sehr gern bemüht, scheint zu glauben, dass man dem Erziehungsberechtigten-Effekt kaum entkommen kann. Wenn wir darüber diskutieren, halte ich dagegen, obwohl ich nicht 100%ig überzeugt bin, dass er sich irrt. Ich möchte hier jedoch zwei Argumente gegen seine Position anbringen: erstens, diese Entwicklung hin zu mehr „Konservatismus“ ist nicht grundsätzlich schlecht. Zweitens, man sollte sie sich nicht als so linear vorstellen, wie von dem zitierten Geschäftsmann impliziert.

In gewissem Sinne ist der Verlust eines Teils des jugendhaften Idealismus etwas Gutes. Dieser Idealismus kann eine große Kraft sein und ich würde nicht so weit gehen, ihn als etwas Schlechtes darzustellen. Gleichwohl basiert er oft auf Fehleinschätzungen der Realität. Zum einen ist er meistens sehr simplifizierend, sehr schwarz-weiß: der Kapitalismus ist böse und ausbeuterisch. Man muss ihn also abschaffen. Kriege sind böse. Man sollte also auch das Militär abschaffen. Danach wird alles Friede-Freude-Eierkuchen. Und so weiter und so fort (ich habe den Eindruck, dass ich an dieser Stelle das Wahlprogramm der Linken zitieren könnte – dies ist aber Thema für einen anderen Beitrag). Die Welt ist nicht schwarz-weiß, sie lässt sich nicht klar in Gut und Böse einteilen, und schon gar nicht sind es nur Institutionen (z. B. Märkte oder Eigentumsverhältnisse), die an unserer Misere schuld sind, Che Guevara war kein Held. Man kann die Menschen nicht so leicht glücklich machen, ohne sie zu bevormunden. Wenn man das einsieht, verliert man einiges an Kraft und Motivation (weil die Welt plötzlich so kompliziert erscheint – zurecht), gewinnt aber an Realismus. Womit wir beim anderen Aspekt der Fehleinschätzung der Realität angelangt wären – als Idealist überschätzt man häufig seine Möglichkeiten. Man ist übermäßig optimistisch. Wenn man diesen Fehler lange macht, ohne ihn zu merken, läuft man Gefahr, dass die Ernüchterung ganz plötzlich kommt. Nach Jahren des Kampfes gegen „das Böse“ stellt man dann plötzlich fest, dass es umsonst war, weil man das Böse an der falschen Stelle gesucht hat. Eine gewisse Portion des Erziehungsberechtigten-Effekts kann also langfristig der eigenen Psyche gut tun. Wir sind nicht verpflichtet, unser Leben und unser Glück für das abstrakte „Wohl der Menschheit“ zu opfern. Nicht vollständig zumindest.

Das zweite Argument, das direkt gegen die Position meines oben erwähnten Freundes gerichtet ist (seine Lebensumstände haben sich kürzlich drastisch verändert, eine gewisse Verblendung sei ihm also verziehen;-), bezieht sich auf die implizite Linearität des Erziehungsberechtigten-Effekts: sobald der Prozess eingesetzt hat, hört es nicht auf, bis man endlich die CDU gewählt hat. Das ist falsch. Schon alleine eine statistische Betrachtung reicht hier eigentlich, um den Punkt zu widerlegen: nicht alle Wähler der Linken oder der Grünen sind Mittzwanziger. Der Grund dafür ist das, was ich bereits diskutiert habe: was man für den Erziehungsberechtigten-Effekt hält, ist zunächst ein willkommener Realismusgewinn. Man merkt, dass die Welt komplizierter ist, als man vormals dachte. Man ist plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für andere Menschen (Kinder, Partner…). Manchmal kommt Enttäuschung hinzu, wenn man merkt, wie wenig man in seiner idealistischen Zeit erreichen konnte, gemessen an dem Engagement, das man reingesteckt hatte. Nun setzt also eine Wandlung ein, hin zu mehr Konservatismus (man könnte es auch Zurückhaltung nennen). Gibt es einen Grund, wieso diese Wandlung erst bei der CDU aufhören sollte? Ich sehe keinen. Auch wenn man merkt, dass man der Erreichung seiner gesellschaftlichen Ideale nicht so leicht nahe kommt, dass die Arbeitswelt, die Realität des Bildungssystems etc. auch die Erreichung individueller Ideale zumindest erschweren, ist das noch lange kein Grund, klein beizugeben und seine Ideale ad acta zu legen. Ein möglicher Effekt ist, dass man sich mehr auf die individuellen Ideale, das eigene Leben konzentriert, wenn man schon die Gesellschaft als Ganzes nicht verändern kann. Doch kann man seiner Familie durchaus einen Mindestwohlstand und Sicherheit garantieren, ohne sich maßlos zu verschulden. Eventuelle Schulden zwingen einen nicht, sein gesamtes übriggebliebenes Leben der Karriere zu widmen. Und Karriere muss nicht bedeuten, dass man Konformist werden muss. Dies sind keine Notwendigkeiten, sondern einzelne Entscheidungen, die man für sich treffen muss. Natürlich hat man es manchmal schwer, wenn man sich gegen die Optionen nach dem Erziehungsberechtigten-Prinzip entscheidet. Kurzfristig betrachtet. Langfristig betrachtet kann man sich damit z. B. Gewissensbisse ersparen, dass man gegen die eigenen Prinzipien gehandelt hat. So schwer vorausschauendes Denken ist, ist es doch nicht unmöglich. Wir sind keine von der Realität Getriebenen – als solche wären wir eher nie Idealisten geworden, sondern hätten gleich die CDU gewählt und die Bild gelesen.

Zu guter Letzt möchte ich mich noch auf eine Autorität berufen: der deutsch-US-amerikanische Ökonom und Soziologe Albert Hirschman hat mal ein Büchlein mit dem Titel Shifting Involvements geschrieben. Darin beschrieb er einen Mechanismus, den viele Menschen bzw. ganze Gesellschaften durchmachen, wenn sie zwischen Wellen zivilgesellschaftlichen Engagements und dem „Rückzug ins Private“ wechseln. Auch er argumentierte, dass es sich hierbei nicht um einen linearen Prozess handelt, sondern eher um eine Art Pendelbewegung zwischen den beiden Extremen. Hirschman erklärte dieses Pendeln (die shifting involvements) mit Enttäuschungen: stellt man fest, dass man als Zivilgesellschaft seine Ziele nicht erreicht oder zumindest nicht weiterkommt, kommt der Rückzug ins Private. Irgendwann wird das Status quo aber unerträglich, weil es auch aufs Private Auswirkungen hat (siehe die angesprochene Dissonanz zwischen „gesellschaftlichen Wünschen“ und dem eigenen Verhalten als Eltern), und dann beginnt wieder eine „zivilgesellschaftliche Phase“. Die Ausschläge des Pendels mögen unterschiedlich stark variieren, aber es ist unwahrscheinlich, dass es bei einem Extremum verharren muss.

In Die fetten Jahre sind vorbei wirft Jan dem Geschäftsmann vor, dass er sich fauler Ausreden bediene. So einfach ist das nicht; das von ihm beschriebene Szenario (der Erziehungsberechtigten-Effekt) ist durchaus einleuchtend. Es ist aber gleichzeitig keine unvermeidliche Notwendigkeit, an der man nichts ändern könnte. Schon gar nicht, wenn man sich des Problems bewusst ist.

4 Gedanken zu “Der Erziehungsberechtigten-Effekt

  1. Der „Erziehungsberechtigten-Effekt“ mag nicht zwingend sein, aber man muss schon ganz schön hartgesotten (ideologisch verkrustet) sein, um ihm nicht wenigstens ein bisschen zu verfallen. Vielleicht macht man am Ende nicht unbedingt das Kreuz bei der CDU. Aber man tauscht einen guten Teil seiner Ideale letztlich ohne Not gegen Bequemlichkeit. Möglicherweise ist das auch ganz gut so, sonst kämen Gesellschaften wohl nie zur Ruhe. Andererseits, für die ganz unten ist es nur eine Friedhofsruhe.

    Es gibt übrigens einen wunderbar wehmütigen Song der Ärzte zum E-Effekt:

    „…
    Revolution – wir wollten weg von der Masse,
    kopfüber in die Hölle und zurück!
    Heute stehst Du bei Hertie an der Kasse,
    da ist keine Sehnsucht mehr in deinem Blick…
    Du sagst: „Man tut halt was man kann“,
    und Dir geht’s gut – du kotzt mich an!

    Wir haben geträumt von einer besseren Welt.
    Wir haben sie uns so einfach vorgestellt!
    Wir haben geträumt, es war ’ne lange Nacht,
    ich wünschte wir wären niemals aufgewacht…“

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    • Aber ist „ein bisschen Bequemlichkeit“ wirklich schlimm? Sind wir verpflichtet, unser persönliches Wohlergehen (+das unserer Nächsten) komplett dem abstrakten Wohl der Gesellschaft zu opfern? Ich glaube nicht. Ich finde es nicht falsch, hin und wieder mein eigenes Glück (wieder, die Nächsten eingeschlossen) der „Menschheit“ vorzuziehen. Zumal ich immer wieder den Eindruck habe, dass die Menschheit gar nicht „gerettet“ werden möchte.

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      • Ja, eine solche Pflicht gibt es – den kategorischen Imperativ. Auch wohlfahrtsökonomisch lässt sich das leicht begründen: Der Grenznutzen, den eine zusätzliche „Einheit“ Bequemlichkeit bei mir hinterlässt, ist aufgrund externer Effekte oder der ungleichen Einkommensverteilung häufig ungleich geringer als der Grenzschaden dieser Bequemlichkeit (aufgrund externer Effekte) oder der Grenznutzen, den die Einkommensbasis meiner Bequemlichkeit bei einer Person mit geringerem Einkommen ermöglichen würde.

        Beispiel: Aus Bequemlichkeit kaufe ich heute im Rewe mal Bananen, die kein fair-trade-Siegel aufweisen, denn die fairen Bananen sind gerade aus. Mein Grenznutzen daraus ist überschaubar, morgen oder einen Supermarkt weiter könnte ich wahrscheinlich wieder faire Bananen kaufen. U.U. ist aber gerade bei dieser Bananenstaude ein Arbeiter von Chiquita mit giftigen Pestiziden besprüht worden und hat ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen davongetragen. Das ist nur insoweit abstrakt als dass ich es nicht mit eigenen Augen sehe. Aber mit 10 Sekunden überlegen weiß ich, dass es genau so ist bzw. mit einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit eingetreten ist.

        Ich glaube, der Erziehungsberechtigten-Effekt hat gar nicht so viel mit Bequemlichkeit zu tun, sondern eher mit psychischer Hygiene. Nicht unsere Bequemlichkeit für dazu, dass wir die Folgen unseres nicht-nachhaltigen oder unsozialen Handelns ausblenden. Sondern unsere Unfähigkeit, das ständige Vergegenwärtigen der Probleme der Welt zu ertragen, führt dazu, dass wir diese ausblenden und die Bequemlichkeit anschließend leichtes Spiel mit uns hat.

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  2. Der kategorische Imperativ heißt nicht, dass ich mich vollständig der Gesellschaft zu opfern hat. Aber das sagst du ja auch eigentlich nicht. Du sagst letztlich nur, dass man vermeidbaren Schaden an Anderen vermeiden sollte. Da gehe ich mit. Was ich mit „vertretbarem Erziehungsberechtigten-Effekt“ meine, ist vor allem, dass man nicht versuchen muss, die Welt im Großen zu verändern. Dass man weiterhin verpflichtet ist, „im Kleinen“ (d. h., im Privatleben) bestimmte Mindeststandards zu erfüllen (bspw. bezüglich des Kaufs von Bananen), dem stimmte ich zu. Kurzum, so viel ist meiner Meinung nach „erlaubt“ bzw. nicht verwerflich: Die Einsicht, dass man weder die Welt retten kann (das pragmatische Argument), noch ist man dazu verpflichtet (das ethische Argument). Wozu man aber durchaus verpflichtet ist, und das deckt sich, denke ich, mit dem von dir herangezogenen kategorischen Imperativ bzw. der Wohlfahrtsökonomik, ist, dass man die Welt zumindest nicht schlechter macht. D’accord?

    Sondern unsere Unfähigkeit, das ständige Vergegenwärtigen der Probleme der Welt zu ertragen, führt dazu, dass wir diese ausblenden und die Bequemlichkeit anschließend leichtes Spiel mit uns hat.

    Das ist richtig, und ich kann es den Menschen nicht immer verübeln. Ich ertrage so was relativ gut, aber ich bin ja auch ein relativ emotionsfreier Mensch. Ich kenne aber Menschen, gute Menschen, die sich durchaus Gedanken machen und in ihrem Privatleben versuchen, die Welt nicht schlechter (und vielleicht ein klein wenig besser) zu machen, die aber trotzdem von der ständigen Vergegenwärtigung der Probleme dieser Welt depressiv werden (das ist jetzt keine Übertreibung, sondern die Beschreibung eines konkreten Falls).

    Hinzu kommt, dass du Unsicherheit zu vernachlässigen scheinst. Die Banane ist relativ klar, aber auch hier ist vielen Menschen nicht bewusst, was der Unterschied zwischen Chiquita und FT, jenseits des Preises, ist. Man kann natürlich sagen, wahrscheinlich legitimerweise, dass ein gewisses Mindestmaß an Bereitschaft, Wissen zu erlangen, zum kategorischen Imperativ dazu gehört (das würde zu Kants Definition der Aufklärung passen). In vielen Fällen ist man sich aber nicht sicher, wie man denn überhaupt richtig handeln kann. Auch das macht es schwierig, immer ein reines Gewissen zu haben.

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